La Réunion: Logistik-Alltag mitten im Indischen Ozean

Reportage

Der Insel-Fernfahrer.

Gerald Victoire ist Trucker auf der Insel La Réunion. Mit seinem Actros steckt er regelmäßig im Stau. Das soll sich bald ändern – dank eines ehrgeizigen Bauprojekts.


Direkt neben der Fahrbahn erheben sich schroffe Vulkanfelsen in die Höhe. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße schlagen die Wellen des Indischen Ozeans ans Ufer. Gerald Victoire verlangsamt das Tempo seines Actros. „Hinter der Kurve steht der Verkehr garantiert“, vermutet er. Doch diesmal rollen die Fahrzeuge auf der Küstenstraße vor Saint-Denis. Erst als Gerald mit seinem Truck die Hauptstadt der Insel erreicht, kommt der erwartete Stau.



„Île de la Réunion“, zu Deutsch „Insel der Zusammenkunft“ wurde das 2.000 Kilometer vor der afrikanischen Ostküste gelegene französische Übersee-Département benannt, und der Name ist Programm: Bis sich im 17. Jahrhundert französische Siedler dort niederließen, war die Insel unbewohnt. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte kamen Einwohner aller Kontinente und verschiedenster Ethnien hinzu. „Auf diese Vielfalt und vor allem das friedliche Zusammenleben sind wir Inselbewohner besonders stolz“, sagt Gerald Victoire.



„Von den Felsen kann jederzeit etwas runterkommen.“

– Gerald Victoire, Fahrer bei JS Transports


Auf eine Zusammenkunft würden allerdings alle gerne verzichten: Denn im dicht besiedelten Nordwesten der Insel sind verstopfte Straßen und Staus an der Tagesordnung. Wie ein Nadelöhr erscheint die Küstenstraße zwischen den Städten Saint-Denis und Saint-Paul. 250.000 der insgesamt rund 860.000 Einwohner leben hier. Zwischen den Städten liegt Le Port, der wichtigste Hafen des Eilandes. Was hier ankommt, will verteilt werden. Und das ist nicht immer einfach. „Für die 30 Kilometer zwischen den beiden Orten braucht man manchmal mehr als zwei Stunden“, sagt Gerald Victoire seufzend.

Er blickt zwischen den Displays der MirrorCam hin und her. Dann schaut der 46-Jährige die steilen Felsen hinauf, während der Active Drive Assist den Actros 1863 langsam aber sicher durch den Stau rollen lässt. „Da kann jederzeit etwas runterkommen“, sagt Gerald Victoire, der seit 26 Jahren Lkw fährt.


Massive Stahlkonstruktionen sollen vor Steinschlag und Geröll schützen. Dennoch schaffen es viele Gesteinsbrocken bis auf die Straße.
Massive Stahlkonstruktionen sollen vor Steinschlag und Geröll schützen. Dennoch schaffen es viele Gesteinsbrocken bis auf die Straße.
Alt und Neu: Die künftige Brückenkonstruktion verläuft parallel zur Küste.
Alt und Neu: Die künftige Brückenkonstruktion verläuft parallel zur Küste.
Blick nach vorn: Täglich passiert Gerald Victoire das neue Bauwerk – und freut sich schon auf dessen Eröffnung.
Blick nach vorn: Täglich passiert Gerald Victoire das neue Bauwerk – und freut sich schon auf dessen Eröffnung.

Wettertücken und Straßensperrungen.

Auch wenn massive Stahlkonstruktionen mit dicken Netzen die Gefahr von Steinschlägen reduzieren – auf dieser Strecke gab es schon einige schwere Unfälle durch Gesteinsbrocken. „Wir haben auch noch einen aktiven Vulkan, den Piton de la Fournaise, auf der Insel.“ Damit nicht genug: Zur Zyklonzeit schlagen bis zu zehn Meter hohe Wellen über die Straße, zu sehen in zahlreichen Videos im Internet. „Die derzeitige Ruhe täuscht“, weiß Gerald Victoire. Die Insel und ihre Wettertücken kennt er von klein auf. Zwischen Dezember und März regnet es hier so stark, dass La Réunion den Weltrekord für die höchste Niederschlagsmenge innerhalb von drei Tagen (3.929 mm) hält. „Vom Fels stürzen dann wahre Bäche herab“, berichtet der Trucker. Und von der anderen Seite kommen die Wellen. Die Folge: häufige Sperrung des Streckenabschnitts – und natürlich Staus. Für den Schwerlastverkehr ist dann die wichtigste Versorgungsroute dicht, eine Alternative durchs Hochland gibt es nicht.



Straßenbauprojekt macht Hoffnung.

„Deswegen setzen wir alle Hoffnungen auf diese Brücke“, sagt Gerald und zeigt durch die Windschutzscheibe in Richtung Meer. Dort erhebt sich ein mächtiges Bauwerk, das parallel zur Route Littoral entsteht. Es wird das teuerste Autobahnprojekt in der französischen Geschichte.

Bis der Verkehr auf der neuen Strecke rollt, muss Geralds Chef Jimmy Soucramanien andere Wege finden, um den Staus zu entgehen. Dazu hat er seinen Fuhrpark von 35 Fahrzeugen strategisch auf der gesamten Insel verteilt – sodass nicht jeder Truck zu oft durch das Nadelöhr bei Saint-Denis fahren muss. Egal ob Postlieferungen, Getränke- und Lebensmitteltransporte, Baustoffe oder Recyclingabfälle – Gerald und seine Kollegen bei JS Transports sind auf der ganzen Insel unterwegs.



Nouvelle Route du Littoral.

Insgesamt 12,5 Kilometer lang soll die Nouvelle Route du Littoral werden, davon sind 5,4 Kilometer als Brücke angelegt – das längste Viadukt Frankreichs. Zyklonfest wird sie Windgeschwindigkeiten bis 150 Kilometer pro Stunde trotzen und mit drei Spuren pro Fahrtrichtung bis zu 300 Meter von der Küste entfernt über die mitunter tosende Brandung führen. Eingebunden werden darüber hinaus sechs Dammabschnitte. Den Aufwand spiegeln die Baukosten wider: Rund 1,6 Milliarden Euro dürften in das Bauwerk fließen, finanziert von der Region Réunion, dem französischen Staat sowie der Europäischen Union.



„Wir fahren alles, was man transportieren kann“, sagt Gerald Victoire, der bei JS Transports seit zwölf Jahren im Einsatz ist. Gerade fährt er zum Trailertauschen – den Kippsattel absatteln, einen Schubboden-Trailer aufsatteln – dann geht’s mit einer Ladung Hausabfall zu einem Recyclingunternehmen.


Einer von 50.

Für eine kurze Truck-Wäsche muss allerdings noch Zeit sein. Denn für seine Touren hat Gerald Victoire einen echten Hingucker von seinem Chef bekommen: Das auf 50 Exemplare limitierte Actros Sondermodell Ultimate Racing Edition war nur für den französischen Markt erhältlich. Zwei der Exemplare haben es auf La Réunion geschafft, eins davon fährt jetzt Gerald Victoire. Mit exklusiver Lackierung, die an das Mercedes‑AMG Petronas Team erinnert, Lederausstattung und Topmotorisierung macht Gerald der Actros richtig Spaß. „Die Power ist immer da, wenn man sie braucht“, freut sich der leidenschaftliche Trucker. Sogar ein Bett stünde Gerald zur Verfügung. „Ich musste auf La Réunion aber noch nicht im Lkw schlafen“, sagt er und zeigt auf die noch verpackte Matratze hinter sich. „Die Insel ist ja relativ klein.“


Eine der Lieblingsstrecken von Gerald führt durch das Lavafeld „Grand Brûlé“. Hier ist die erstarrte Lava vom Vulkankrater bis ins Meer geflossen.


Pro Jahr kommen bei Gerald Victoire etwa 50.000 Kilometer zusammen. Verglichen mit dem Fernverkehr auf dem europäischen Festland klingt das wenig. Durchschnittlich 200 Kilometer pro Tag sind für die Infrastruktur auf La Réunion allerdings schon eine Menge – gerade mit Blick auf den Verkehr.

Gerald Victoire lässt sich davon nicht beirren. „Ich bin jeden Abend bei der Familie und habe trotzdem ein echtes Fernverkehrsgefühl. Außerdem gibt es hier sehr viele Sonnentage, das ist einfach traumhaft. Ich genieße jeden Tag“, sagt Gerald, lächelt und lässt den Actros wieder anrollen. Saint-Denis liegt nun hinter ihm, die Straße vor ihm ist wieder frei.


Der Hindu-Tempel Kali Kampal in Saint-Denis ist ein Beispiel für die kulturelle Vielfalt der Insel.
Der Hindu-Tempel Kali Kampal in Saint-Denis ist ein Beispiel für die kulturelle Vielfalt der Insel.
Über den Wolken: Das Zentrum La Réunions ist geprägt von hohen Bergen. Der Gebirgszug sorgt für völlig unterschiedliche Klimabereiche im Westen und Osten der Insel.
Über den Wolken: Das Zentrum La Réunions ist geprägt von hohen Bergen. Der Gebirgszug sorgt für völlig unterschiedliche Klimabereiche im Westen und Osten der Insel.
Der Piton de la Fournaise ist der letzte aktive Vulkan auf La Réunion – und einer der aktivsten Vulkane der Erde. Allein im Jahr 2019 brach er fünf Mal aus.
Der Piton de la Fournaise ist der letzte aktive Vulkan auf La Réunion – und einer der aktivsten Vulkane der Erde. Allein im Jahr 2019 brach er fünf Mal aus.

Fotos und Video: Alexander Tempel

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