Aerodynamik ist messbar: Im Windkanal zeigt sich die Kunst der Mercedes-Benz Entwickler

Fahrzeug & Technik

Im Auge des Orkans.

Der neue Actros verbraucht bis zu fünf Prozent weniger Kraftstoff als sein Vorgänger. Das liegt auch an seiner verbesserten Aerodynamik. Erzielt wurde diese durch Versuche am Rechner, auf der Straße – und im Windkanal.

Michael Hilgers, Leiter CAE Vehicle Functions in der Nutzfahrzeugentwicklung von Mercedes‑Benz, präsentiert die Power des Gebläses im Untertürkheimer Windkanal.


Man könnte das riesige Gebläse hervorragend als Kulisse für die neueste Hollywood-Produktion nutzen – und dabei so tun, als sei es das Triebwerk eines gigantischen Raumschiffs. 8,5 Meter beträgt der Axialgebläse-Durchmesser, die neun rot lackierten Flügel sind je zweieinhalb Meter lang. In der Anlage werden an diesem Tag tatsächlich Bilder aufgenommen. Keine bewegten allerdings, sondern Porträtfotos von Michael Hilgers, dem Leiter CAE Vehicle Functions in der Nutzfahrzeugentwicklung von Mercedes‑Benz.

Hilgers und seine Kollegen haben hier, im Windkanal der Daimler AG in Stuttgart-Untertürkheim, maßgeblich dazu beigetragen, dass der neue Actros noch aerodynamischer und damit noch kraftstoffeffizienter ist als jedes seiner Vorgänger-Modelle.



Wie bedeutend die Aerodynamik ist, unterstreicht folgende Zahl: Bei einem aktuellen Lkw im europäischen Fernverkehrseinsatz wird etwa ein Drittel der zur Verfügung stehenden mechanischen Energie zur Überwindung des Luftwiderstands aufgewendet. Je geringer dieser Widerstand, je aerodynamischer also der Truck, desto geringer ist sein Verbrauch. Der neue Actros ermöglicht gegenüber seinem Vorgänger bis zu fünf Prozent Kraftstoffersparnis. Allein auf die aerodynamisch optimierte MirrorCam, die die klassischen Außenspiegel ersetzt, lassen sich bis zu 1,5 Prozent zurückführen.

Wie wurde in Untertürkheim zur Aerodynamik des neuen Actros beigetragen? Das Windkanal-Gebläse kann bei Bedarf Sturm mit Geschwindigkeiten von bis zu 250 Kilometer pro Stunde erzeugen. Im Laufe der Entwicklungsphase setzten die Aerodynamiker das Fahrzeug mehrmals dem Windstrom aus, um die Umströmungsbedingungen zu simulieren. Dabei war der Truck auf einer Drehscheibe mit integrierter Waage platziert.


Mit Simulationen den cw-Wert optimieren.

Das Ziel solcher Simulationen ist es, den cw-Wert, die „Windschlüpfigkeit“, eines Lkw zu optimieren. „Wir nehmen hier Stichprobenversuche vor, um die aerodynamische Verbesserung von Konzeptbauteilen zu bestätigen“, erläutert Michael Hilgers die grundsätzliche Vorgehensweise. „Parallel läuft immer die computerbasierte Strömungsberechnung: die digitale Simulation anhand sogenannter Computational Fluid Dynamics, kurz CFD.“ Darüber hinaus werden die aerodynamischen Maßnahmen im Straßeneinsatz validiert.

Beim neuen Actros lieferte die Windkanal-Arbeit wertvolle Hinweise zur Gestaltung der MirrorCam, aber auch für die Positionierung ihrer Kameraarme rechts und links am Fahrerhaus. „Zur Debatte standen der obere und der untere Bereich der A-Säule sowie der obere Bereich der B-Säule“, erklärt Michael Hilgers.

Für die Versuche wurde ein realer Actros verwendet, bei dem man die Außenspiegel durch Prototypen der Kameraarme ersetzt hatte – nacheinander angebracht an den drei zu prüfenden Positionen. Der Lkw wurde auf der Waage des Windkanals platziert und das Gebläse in Gang gesetzt. Die Waage ermöglichte den Ingenieuren, die Luftkraft zu messen, die bei der Umströmung auf das Fahrzeug einwirkt. Ergebnis: Die beste Position für die Kameraarme befindet sich an der A-Säule im Bereich der Dachkante.


Gesucht wurde außerdem eine Lösung, die verhindert, dass von oben einfallendes Streulicht die Performance der Kameras mindert. Bei diesen Tests setzte sich das kleine Dach durch, mit dem die Arme der MirrorCam nun ausgestattet sind. Auch an der Entwicklung der neuen, konkav geformten Endkantenklappen des Fahrerhauses waren die Ingenieure intensiv beteiligt. Die optimierten Endkantenklappen tragen ebenfalls dazu bei, dass der neue Actros so wenig Kraftstoff benötigt wie keiner seiner Vorgänger.

Schmutzfreihaltung ebenfalls im Blick.

Neben der Senkung des Verbrauchs haben die Ingenieure bei ihren Versuchen im Windkanal und den CFD-Analysen auch das Thema Schmutzfreihaltung im Blick.

„Dabei geht es vor allem um sicherheitsrelevante Bereiche wie Front- und Seitenscheiben sowie die Linsen der Kameraarme“, erläutert Hilgers. Die Aerodynamik hat Einfluss darauf, wie viel Schmutz vom eigenen und von vorausfahrenden Fahrzeugen haften bleibt.

Essenziell ist nicht nur die eigene Arbeit der Aerodynamiker, sondern auch die Abstimmung mit den Kollegen aus anderen Kerndisziplinen, vor allem mit den Designern und Konstrukteuren. Denn nicht alles, was der Aerodynamik dient, ist aus gestalterischer Sicht wünschenswert oder für die Konstrukteure umsetzbar.

Umgekehrt müssen die Aerodynamiker bei manchen Ideen der Kollegen ihr Veto einlegen. „Letztlich ist aber allen Beteiligten eines bewusst“, betont Michael Hilgers: „Es geht immer darum, gemeinsam die beste Lösung zu entwickeln.“


Frontal im Strom: Bei der Windkanal-Arbeit standen die Kameraarme der MirrorCam und die Endkantenklappen des Fahrerhauses im Fokus der Entwickler.


Fotos: Daimler, Lars Kruse

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